Der von der Jury ausgezeichnete Text „das kleine Unglück“ (PDF) von Cornelia Heynen.
Kölnisch Wasser
Lassie starb an einem Sonntagnachmittag, während die Mutter dick glasierte
Crèmeschnitten auf geblümte Teller schaufelte und der See grau im Regen lag. Der
Vater schlief auf dem Sofa seinen Rausch aus; er hatte die Uniform noch an, was so
gar nicht zu seinem halbgeöffneten Mund mit den schwarz plombierten Zähnen darin
passen wollte. Im Fernseher weinten sie um den sterbenden Hund und die Mutter
schimpfte über den Bäcker Streuli, der seine Crèmeschnitten sogar am Sonntag
noch verkaufte, wo der Sonntag doch heilig war. Gesa starrte auf den Bildschirm und
versuchte ihren Blick nach innen zu stülpen, so, wie sie ihren Geschmackssinn
abwürgen konnte, wenn es Kutteln oder Rosenkohl gab. In Lassies schönen,
feuchten Augen erlosch das Leben, aber die Mutter goss noch Tee ein und
beteuerte, dass im Film alles nur erfunden sei und Lassie in Wirklichkeit
quicklebendig. Gesa bohrte sich die Fingernägel in die Handballen und versuchte an
etwas anderes zu denken, an Lehrer Müller zum Beispiel, der sich manchmal so tief
über ihr Heft beugte, dass sie seinen säuerlichen Atem riechen konnte. Oder an Dirk,
der ihr freiwillig den Schulthek nach Hause trug, obwohl sein Vater doch Direktor in
jener Firma war, in der ihr Vater als Nachtwächter seine Runden drehte. Die
Hoffmanns seien etwas Besseres, pflegte die Mutter mit verdrehten Augen zu
wispern, und darum musste sich Gesa neulich ausschütten vor Lachen, als Dirk in
seiner unbeholfenen Art vom Baum fiel, weil er für sie, Gesa, grüne Äpfel stehlen
wollte. Danach lag der Schulkamerad mit einer starren Halskrause im Spital und
Gesa musste ihn mit ihrem Vater, der sich zu viel Brillantine ins Haar geschmiert
hatte und nach Kölnisch Wasser roch, am Krankenbett besuchen. Sie schämte sich
ein bisschen, weil die Hoffmanns auch da waren und Frau Hoffmann streng auf sie
heruntersah, so, als ob sie schmutzig wäre oder schlampig angezogen. Frau
Hoffmann trug ein dunkelblaues Kleid mit einem rotblonden Chignon dazu, sodass
sich Gesa neben ihr ganz klein und irgendwie falsch fühlte.
Ob sie die Crèmeschnitte vom Vater nicht auch noch wolle, hört sie die Mutter jetzt
sagen, und als Gesa ihren Blick wieder nach aussen kehrt, ist Lassie endgültig tot.
Kompositionen
Bis neulich im Schwimmbad, als die Sache mit Wertheimer passierte, hatte Gesa
lange nicht mehr an Dirk gedacht. An einem Klassentreffen hiess es vor Jahren
einmal, „der kleine Hoffmann“ sei noch während seines Studiums an der
Kunstakademie in Münster an Multipler Sklerose erkrankt oder an einer anderen
schleichenden Krankheit, sie wusste es nicht mehr genau, wo die Leute doch von
den absonderlichsten Krankheiten heimgesucht wurden. Hinzu kam, dass sie sich
mit Naturerscheinungen – und war Krankheit nicht eine solche? – schon immer
schwer getan hatte; ja, die Natur langweilte sie an und für sich, und am allermeisten
langweilten sie ausufernde Beschreibungen derselben. „Du hast in Heimatkunde
nichts dazu gelernt!“, hatte ihr Lehrer Müller einst mit dickem Filzstift rot ins Heft
geschrieben, ohne auch nur im Mindesten zu ahnen, wie recht er damit hatte. Nie
würde sie sein Gesicht vergessen, als er in der sechsten Klasse vor versammelter
Schülerschaft laut und deutlich verkünden musste, dass sie, Gesa, als Einzige der
Klasse die Gymi-Prüfung bestanden hatte – „zum ungläubigen Erstaunen der Elternund
Lehrerschaft“, wie Lehrer Müller nicht versäumte hinzuzufügen. Trotz Lehrer
Müllers und Frau Hoffmanns vereinter Lernförderungsmassnahmen war Dirk also
haushoch durchgefallen, während sie, Gesa, ohne fremdes Zutun bestanden hatte.
Zu gern hätte Gesa die Verwandlung auf Frau Hoffmanns Gesicht beim Empfang der
Hiobsbotschaft gesehen; sie stellte sich vor, wie sich die kunstvolle Komposition ob
all dem „ungläubigen Erstaunen“ selbst zersetzte, bis nichts mehr davon übrig blieb
als Blösse. Direktor Hoffmann indes liess über Gesas Vater die allerherzlichsten
Glückwünsche ausrichten; er hoffe, dass Gesa die „geschenkte Chance“ voller
Demut und Dankbarkeit zu nutzen wisse. Während Gesa den Worten des Direktors
aus dem schmallippigen Mund ihres Vaters lauschte, musste sie an dessen
beschämend geringen Lohn denken und daran, dass sich der Vater vor lauter Demut
und Dankbarkeit kaum zu rühren wagte. „Der kleine Hoffmann“ selbst – wie Dirk von
seinen Mitschülern aufgrund seiner schmächtigen Statur und seines übermächtigen
Vaters genannt wurde – war sichtlich erleichtert, dem Gymnasium und den
überstiegenen Anforderungen seiner Mutter fürs Erste entkommen zu sein. Am
liebsten wäre er wohl gleich auf die handwerklich ausgerichtete Realschule
gegangen, wo er doch nichts sehnlicher als Möbelschreiner oder Uhrmacher werden
wollte. Denn so linkisch sich Dirk am Reck oder an den Ringen auch anstellen
mochte, so geschickt wusste er mit seinen schönen, schmalen Händen umzugehen,
die – gemessen an seinem zartgliedrigen Körperbau – erstaunlich lang und kraftvoll
waren. Am Ende der sechsten Klasse schenkte ihr der treue Schulkamerad ein schwarz
glänzendes Lack-Etui, das aus einem renommierten Lederwarengeschäft stammte
und das Gesa noch auf dem Heimweg in die nächste Mülltonne warf, obwohl sie es
so gern besessen hätte.
Josef und der Idiot
An Josef Andrascheks ungarndeutsche Herkunft erinnerten einzig sein Name und
„die Schwermut der Seele“, wie Gesas Mutter die Ausfälle und Abstürze ihres
Mannes zu begründen pflegte. Gesa entsann sich nicht, dass ihr Vater jemals
ungarisch gesprochen hätte, jedenfalls nicht, solange er nüchtern war. Nicht einmal
seinem Dialekt – einem kuriosen Gemisch aus Schwäbisch, Wienerisch und
Schweizer Mundart – war der ungarische Akzent anzuhören, was wohl weniger an
Josefs sprachlicher Begabung als vielmehr an seinen zwiespältigen Gefühlen allem
Ungarisch-Stämmigen gegenüber lag.
Soweit Gesa wusste, war der Vater in einem gottverlassenen Dorf in Ungarn inmitten
von bewaldeten Hügeln in eine bitterarme Sippschaft von Ungarndeutschen
hineingeboren worden. Das Dorf war so abgeschnitten von der Welt und von allem,
was die Zivilisation bei all ihren Tücken auch an Gutem und Schönem mit sich bringt,
dass es sogar von den Russen bei ihrem Einmarsch 1944 übersehen worden war.
Immerhin gab es in dem trostlosen Nest zwei Kirchen mit zwei Pfarrhäusern, und aus
demjenigen mit der gut bestückten Bibliothek entwendete Josef im Alter von vierzehn
Jahren Dostojewskis „Idiot“ und Schillers „Räuber“, beides in deutscher Fassung. Der
Diebstahl wäre Josefs Sippschaft wohl herzlich egal gewesen, hätte der Junge auch
Speck und Schnaps für die Seinen aus der pfarrherrlichen Vorratskammer mitgehen
lassen. Dass der Bub, der depperte, dies nicht nur sträflich unterlassen hatte,
sondern das Versäumte nicht einmal nachzuholen bereit war, das konnte die Familie
allerdings unmöglich hinnehmen. So verjagten sie ihn – nachdem ihn seine Brüder
schier zu Tode geprügelt hatten – mit Schimpf und Schande und ohne einen Kanten
Brot in die tiefen Wälder Ungarns, wo er den Russen wie durch ein Wunder erneut
entkam. Wie er sich freilich ohne einen Forint in der Tasche seinen Weg von der Einöde
Ungarns bis zu jenem Grandhotel in den Berner Alpen bahnte, wo er 1952 in einer
adretten Portier-Uniform plötzlich wieder auftaucht, bleibt ein Geheimnis, von dem
Gesa froh ist, es nicht zu kennen. Im Berner Grandhotel nahm eine blutjunge
Saaltochter, die einer kinderreichen Bauernfamilie aus dem Toggenburg entstammte
und allerlei Widerstände gewohnt war, den fremdländischen Portier mit den
schadhaften Zähnen unter ihre Fittiche. Nach der ersten gemeinsamen Nacht
schleppte sie ihn gleich zum Zahnarzt, der sich sichtlich entsetzt über den von
Mangelernährung und Verwahrlosung zeugenden Zustand des ungarndeutschen
Gebisses zeigte. Sie habe Josef immer nur beschützen wollen, beteuert die blutjunge
Saaltochter von einst, die jetzt Gesas Mutter ist und immer noch beharrlich,
wenigstens in den kleinen Dingen, wo sie in den grossen doch so jämmerlich
gescheitert ist. Was Josef Andraschek von seinem ersten Leben ausser seinem Namen und seiner
schwermütigen Seele noch in seine neue Schweizer Existenz hinübergerettet hatte:
seine Liebe zu den grossen Klassikern der Weltliteratur und seine Faszination für die
Biografien von Männern, die – wie er sagte – im Leben und im Sterben mit Füssen
getreten worden seien. Friedrich Hölderlin zum Beispiel oder Robert Walser, Rudolf
von Österreich-Ungarn oder Joseph Roth, aus dessen Werken er noch im
schlimmsten Suff seitenweise frei zitieren konnte.
Frauen interessierten Gesas Vater nicht, weder fremde noch die eigene, und seine
Tochter nur am Rande. Als es ihm im Alter von sechsundsechzig Jahren endlich
gelang, sich auf dem heimischen Balkon im Schutz der Geranien zu Tode zu saufen,
lag Dostojewskis „Idiot“ aufgeschlagen neben ihm, in einer ungarischen Fassung,
versteht sich.
Santorin oder warum gerade der
Gesa hatte sich aus der Sorte von Büchern, die das Nachtwächter-Dasein ihres
Vaters ausstaffierten, ja um derentwillen er vielleicht sogar Nachtwächter geworden
war, nie viel gemacht. Früher las sie manchmal noch einen Krimi oder diesen oder
jenen neu erschienenen Roman; heute genügten ihr die Zeitungen, die sie
frühmorgens in die Briefkästen der schlafdunklen Häuser und Wohnblöcke der
Vorstadt schob. In Ermangelung einer festen Arbeitsstelle hatte sich Gesa gleich
zwei Nebenjobs zugelegt: Morgens trug sie Zeitungen aus und nachmittags führte sie
Onlineumfragen in Heimarbeit durch. Sie verdiente nicht viel, aber sie brauchte ja
auch nur wenig; für die Miete einer Zweizimmerwohnung unter dem Dach eines
etwas miefigen Genossenschaftshauses und für ihren unaufgeregten Lebensstil
reichte es allemal. Zudem bekam ihr das frühe Aufstehen gut; sie fühlte sich
gesünder, lebendiger als früher, als sie um diese Uhrzeit ab und an noch mit Ivy um
die Häuser gezogen war. Wie Gesa die morgendliche Dämmerung liebte! Noch
immer konnte sie sich nicht genug über hingebungsvoll dekorierte Hauseingänge,
blitzblank gescheuerte Gartenwege und den Geruch von Waschpulver wundern, der
in den Treppenhäusern wie ein Gütesiegel für allumfassende Sauberkeit hing. Am
liebsten war ihr die Stunde zwischen drei und vier Uhr morgens, wenn ihr allein die
Welt gehörte und alles noch möglich war. Dann konnte es vorkommen, dass sie eins
war mit sich und mit allem, was sie umgab; mit den Strassen, Bäumen, Sternen und
mit den streunenden Katzen, die ihre Wege mit funkelnder Achtsamkeit kreuzten.
Mittlerweile brauchte sie die frühe Stunde so, wie andere Bewegung brauchten oder
Schokolade oder Zuwendung: Wenn sie eine Zeitlang darauf verzichten musste,
wurde sie unausgeglichen und nervös. Ja, der frühe Morgen war zweifellos „ihr
Ding“, und wenn sich die Welt gegen sechs Uhr wieder zu bevölkern begann, ging
sie in die Bäckerei und kaufte sich zwei Dinkelbrötchen, nicht ohne einen
begehrlichen Blick auf die Patisserie in der Auslage zu werfen. Seit sie in ihren
Vierzigern war, hatte sie angefangen auf ihr Gewicht zu achten; sie war nicht wie Ivy,
der es sichtlich egal war, dass sie immer dicker, unförmiger, aufgedunsener wurde.
Jahrelange Exzesse hatten das ebenmässige Gesicht der Freundin so
aufgeschwemmt, dass sie bald nur noch an ihren kastanienbraunen Locken und an
ihrer rauen, etwas heiseren Stimme zu erkennen war, die ihre Wirkung allerdings
immer noch nicht verfehlte. Wenn gewisse Frauen durch zusätzliche Pfunde und
prallere Formen auch weicher, weiblicher wirken mochten, so gehörte Ivy eindeutig
nicht zu ihnen; bei ihrer Körpergrösse von einseinundachtzig sah das in bulimischen
Fressanfällen und alkoholschwangeren Nächten angehäufte Fett regelrecht
bedrohlich aus. Unbeirrt zwängte sie ihren massig gewordenen Körper in taillenkurze
Bikerjacken und verschlissene Jeans, und unbeirrt konsumierte sie alles, was ihr
unter die Finger kam, im Übermass: Essen, Alkohol, Männer, Medikamente.
Trotzdem kam Gesa nicht umhin, die Freundin für ihre Unbekümmertheit, ja
Unverfrorenheit in Bezug auf ihr Aussehen zu bewundern – so, wie sie sie damals für
ihre Schönheit bewundert hatte, die alles andere, was Ivy auch noch ausmachte,
wuchtvoll übertünchte.
Alle bewunderten Ivy für ihre Schönheit damals, Männer, Frauen, ja sogar Kinder; wo
auch immer auf der Welt sie auftauchte, drehten sich die Menschen nach ihr um,
starrten ihr nach, liefen hinter ihr her, nur, um sie vielleicht an ihrem seidig
schimmernden Handrücken, an einer Locke ihres kastanienbraunen Haares
berühren zu können. Die Männer waren verrückt nach ihr, gleich wie alt oder wie
attraktiv oder wie chancenreich sie waren; alle, alle waren sie hinter ihr her. Der
Einzige, der sie, Gesa, Ivy vorgezogen hatte, war der Amerikaner, und darum schlief
sie im Sommer 1985 auf Santorin auch mit ihm, obwohl er mit seinem breiten Kiefer
so gar nicht ihr Typ war.
Ivy und sie waren an jenem Abend auf ihrem Griechenlandtrip mit der Fähre auf
Santorin gelandet und hatten den Amerikaner an einer Strandbar kennengelernt; er
hatte Ivy gleich links liegen lassen und nur Augen für Gesa gehabt. Die Nacht mit
dem blonden Hünen entwickelte sich dann allerdings alles andere als berauschend,
und Gesa hätte nie mehr auch nur einen Gedanken an jenen Amerikaner und an
seine nicht vorhandenen Liebeskünste verschwendet, hätte sie nicht ein paar Monate
später sein Kind zur Welt gebracht. Der Zeitpunkt dafür war denkbar ungünstig, sie
stand kurz vor der Matur, und das Kind, das den amerikanischen Kiefer seines
Vaters geerbt hatte, schrie Tag und Nacht in seiner lauten, fordernden Art. Josef
Andraschek beschwor Gesa im Andenken an Direktor Hoffmann – den der Tod ein
Jahr zuvor auf der Schwelle eines Sexkinos mitten im Zürcher Niederdorf ereilt hatte
– ihre „geschenkte Chance“ nicht mit Füssen zu treten, aber Gesa war froh, dass
sich das mit der Demut und Dankbarkeit für sie ein für alle Mal erledigt hatte. Sie
schmiss die Schule ohne grosses Bedauern, um sich fortan dem amerikanischen
Kind zu widmen.
Von da an sei es mit dem Vater vollends bergab gegangen, behauptete Gesas
Mutter, die streng darauf achtete, dass die Trinkerei ihres Mannes im häuslichen
Rahmen und folglich unter ihrer Kontrolle blieb. Gesa zog mit ihrer kleinen Tochter,
die sie in Anlehnung an die griechische Mythologie auf den Namen Artemis getauft
hatte, an die Stadtgrenze weit weg von ihrem Elternhaus, weil Josef Andraschek den
Anblick seiner Enkelin nicht ertragen konnte, und mochte er noch so betrunken sein.
Toggenburger Trostpreis
Gesa hatte in der Turnstunde mit den so genannten Dicksäcken und
Brillenschlangen stets zu jenen gehört, die erst ganz am Schluss und unter
Augenrollen der versammelten Sport-Asse in die Mannschaft gewählt wurden. „Du
bewegst dich ja wie ein Weib!“, hatte ihr Lehrer Müller – dessen Begeisterung für
körperliche Ertüchtigung jener für Heimatkunde in nichts nachstand – in der fünften
Klasse beim Stafettenlauf mit hochrotem Kopf nachgebrüllt, sodass sie am liebsten
gleich tot umgefallen wäre. Von da an tat Gesa alles, um sich vor dem Turn- und
Schwimmunterricht tunlichst zu drücken; sie riskierte Kopf und Kragen – erschlich
sich Dispensen, erfand abstruse Krankheiten, fälschte ärztliche Zeugnisse –, um nur
ja nicht an Schulturnieren, Skilagern und Velotagen teilnehmen zu müssen. Mit dem
Ergebnis, dass sie seit dem elften Lebensjahr nie wieder auf ein Fahrrad gestiegen
war und bis heute weder richtig schwimmen noch skifahren konnte.
Vielleicht lag es ja wirklich an ihrem weiblichen Körperbau, dass sie so unsportlich
war – an ihren vollen Brüsten, die nun, da sie auf die Fünfzig zuging, immer schwerer
wurden; an ihren ausladenden Hüften, die ihr das Tragen von handelsüblichen
Hosenmodellen in den letzten zwanzig Jahren verunmöglicht hatten, und an ihren
leichten X-Beinen, die sie zu ihrem Leidwesen von der Mutter geerbt hatte. „Der
Toggenburger Trostpreis!“, pflegte Josef Andraschek im Suff über Gesas Beine zu
frotzeln, grienend, glucksend, bis er sich vor Lachen nicht mehr einkriegen konnte
und japsend nach Luft ringen musste. Anderntags setzte er ein zerknirschtes Gesicht
auf; nicht weil er bereute, was er gesagt hatte – er erinnerte sich schlicht nicht mehr
daran –, sondern weil er an der Miene seiner Frau ablesen konnte, dass es Zeit war,
Busse zu tun. „Toggenburger Trostpreis!“, schnaubte Gesa wütend, als sie sich jetzt
in ihrem korallenroten Badeanzug – ein Geschenk ihrer Tochter Artemis, die sie
damit wohl am Tragen eines Bikinis hindern wollte, – im Spiegel betrachtete. Sie fand
sich eigentlich immer noch ganz passabel für ihr Alter, abgesehen von ihrem
Bäuchlein, das sich auch von dem elastischen Stoff des teuren Teils nicht kaschieren
liess.
Als „appétissante“ hatte sie Lucien früher oft bezeichnet; Lucien, der routinierte
Charmeur und begnadete Weinbauer, mit dem sie dreizehn Jahre lang in einem
Waadtländer Weindorf hoch über dem Genfersee zusammengelebt hatte, die meiste
Zeit davon friedlich. Bis er sie eines Tages wegen einer Erntehelferin verliess, einer
blutjungen Polin, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte und die bald darauf mit
einem geschmeidigen Clubbesitzer aus Lausanne nach Tunesien durchbrannte, weil
dieser in der Schweiz wegen betrügerischen Konkurses gesucht wurde. Lucien litt
wie ein Hund oder wie ein Pennäler, bis ihn die stoische Joyceline aus Ghana von
seinem Leid erlöste, mit der er nun sein Leben in den Waadtländer Weinbergen
teilte, geläutert, wie es schien. Das alles wusste Gesa von Artemis, die mit ihrem
Mann und den Zwillingen in der Nähe jenes friedvollen Weindorfes in einem
lichtdurchfluteten Haus am Genfersee wohnte, so, wie ihr das bereits als kleinem
Mädchen vorgeschwebt hatte.
Lucien war für Artemis zu dem Vater geworden, den ihr Gesa vorenthalten hatte;
nicht, weil sie das so gewollt hätte, sondern weil sie von dem Amerikaner schlicht
nicht mehr wusste, als dass er aus Austin, Texas stammte und ein lausiger
Liebhaber gewesen war.
Mutterschaften
Der korallenrote Badeanzug mochte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass es
Gesa in diesem Sommer so oft ins Schwimmbad zog. Am Wetter konnte es kaum
gelegen haben; es war oft kühl und regnerisch, aber sobald sich die Sonne auch nur
erahnen liess, packte Gesa gleich nach dem Frühstück ihre Badesachen, um kurz
nach neun als eine der Ersten im Pool zu sein. Da sie keine gute Schwimmerin war
und nur sehr langsam vorankam, suhlte sie sich meist im knietiefen Wasser und gab
sich träg ihren Tagträumen hin. Dann suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen auf der
Liegewiese, bevor gegen zehn Uhr die jungen Mütter mit ihren Kindern einfallen
würden.
Die Frauen kamen immer in Gruppen und – ähnlich wie Jugendliche, die sich erst im
Verbund mit ihresgleichen stark und sicher fühlen, – redeten und lachten sie so laut
durcheinander, dass sie die eigenen Kinder mit ihrem Geschrei übertönten. Mit ihren
Tüchern, Taschen und Decken breiteten sie sich in Windeseile unter der
schattenspendenden Trauerweide aus, und bald getraute sich kein anderer Badegast
mehr, den begehrten Platz für sich zu nutzen. Gesa musste an ihre eigene Tochter
denken, die gut zu der Truppe gepasst hätte; sie hatte ihre Mutterschaft seit der
Geburt der Zwillinge zu einem gemeinschaftlichen Lebensprojekt hochstilisiert, aus
dem es für niemanden ein Entrinnen gab. Wenn sich Artemis nicht gerade im Pilates
oder im Power-Yoga mit anderen jungen Müttern über die „nie dagewesenen
Herausforderungen“ des heutigen Mutterseins ausliess, tauschte sie sich in Blogs
und Foren über die ungeheure Komplexität der einzig richtigen Kindererziehung aus,
indes die Zwillinge in einer High Class-Kita am Genfersee zwangsgefördert wurden.
Die Zwillinge hiessen Elias und Elisa, „wegen der Alliteration“, wie Artemis sagte, und
weil sich das in allen Sprachen aussprechen lasse; nur für Gesa entpuppten sich die
Namen wegen ihrer Ähnlichkeit als wahre Zungenbrecher, sodass sie sich dauernd
verhedderte und verhaspelte, was Artemis zur Weissglut brachte.
Obwohl Gesa ihre Tochter liebte, wie Mütter ihre Töchter nun mal lieben, musste sie
sich doch eingestehen, dass sie mit Artemis seit dem Tag ihrer Geburt nie ganz
warm geworden war. Der Gedanke, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhen mochte,
hatte für Gesa etwas seltsam Tröstliches an sich.
Das wahre Ich
Der grünäugige Junge, der eines Tages im Schwimmbad auftauchte und mit
federndem Schritt den Rasen bis zur Trauerweide durchmass, wo er sich unter den
Blicken der verstummenden Jungmütter-Schar auf seinem kobaltblauen Badetuch
niederliess, erinnerte Gesa schlagartig an Dirk. Sie wusste nicht warum; Dirk mochte
bei ihrer letzten Begegnung vier, fünf Jahre jünger gewesen sein als dieser Junge
hier, der für Frauen seines Alters wohl längst schon ein Mann war.
Vielleicht lag die Ähnlichkeit mit Dirk in dem Ausdruck vollkommener
Selbstversunkenheit, mit der sich der Junge unter den Badegästen bewegte, gerade
so, als sei die Welt in seinem Inneren ungleich fesselnder als jene um ihn herum.
Vielleicht waren es auch die unaufgesetzte Lässigkeit seiner Körperhaltung und die
langen, wohlgeformten Glieder, die der Grünäugige mit dem damals vielleicht
achtzehnjährigen Dirk gemein hatte; eine natürliche Anmut, die sich fast automatisch
aus dem seltenen Zusammenspiel von idealen Körperproportionen und innerer
Gelassenheit ergibt. Freilich lässt sich jene besondere Gelassenheit – eine Art von
unangestrengtem Selbstvertrauen – gerade in so jungen Jahren nicht vorsätzlich
aneignen; sie wird einem in die Wiege gelegt: eine Frage der Herkunft, der
Umstände, des Glücks.
Zumindest sehen es jene so, die vom Schicksal oder von der Natur weniger reich
beschenkt worden sind; aber was weiss der Bedürftige schon vom Glück der
Glücklichen? Das Unglück der Bedürftigen indes ist auf den ersten Blick erkennbar,
ohne dass es da viel zu bereden gäbe; es haftet einem an wie ein muffiger Geruch,
der noch eine Zeitlang in der Luft hängenbleibt, nachdem der Träger schon längst
vorübergegangen ist. Manchmal, wenn sich Gesa – was nur sehr selten vorkam – in
einer Ansammlung von Menschen aufhielt, fragte sie sich, ob sie bereits nach jener
Art von Unglück muffelte, das gerade in seiner Alltäglichkeit so abstossend wirkt. Es
ist, als hätten die Menschen ein Sensorium für das kleine, abgestandene Unglück
anderer, das neben der aufsehenerregenden Tragik der grossen, bedeutenden
Unglücke grau und verzagt daherkommt. Nichts, woran sich die umherirrenden Blicke
der Menschen festsaugen möchten, und so gleiten die Blicke an Gesa gleichgültig
ab, um sich Halt in einem anderen Gesicht zu suchen, das Neues, Ungeahntes,
Überraschendes verspricht …..
Ob sie, Gesa, jemals für irgendjemanden Verheissung war? Vielleicht für Dirk
damals, in jenem flüchtigen Augenblick, den sie im Nachhinein zu einem so
bedeutenden erhob? Wohl wissend, dass die Vergangenheit ihre Gewichtung erst im
Rückblick erhält….
Wenn Gesa ihr Gesicht heute im Spiegel betrachtet, ist sie ratlos wie ein Kind, das
die Person im Spiegel nicht mit dem Ich in Verbindung bringen kann, das es in sich
fühlt und das doch das echte, wahre sein muss.
Aus den Augen
In jenem Spätsommer 1984 hatte sie mit Ivy, mit der sie seit der ersten Gymi-Klasse
in der Schule und in der Freizeit schier ununterbrochen zusammensteckte, den
Rummel in ihrem Heimatdorf besucht, der dort jeden September gastierte. Da sich
die beiden jungen Mädchen aus all den Bahnen und Karussells nun nicht mehr viel
machten, vertrieben sie sich die Zeit damit, mit einer wolkigen Zuckerwatte oder einer
in Papier eingewickelten Bratwurst durch die Menge zu schlendern. Wie immer, wenn
Gesa mit Ivy unterwegs war, zogen die Freundinnen alle Aufmerksamkeit auf sich;
sobald es Ivy aber zu viel wurde – sie nahm ihre Wirkung auf andere niemals
persönlich, sondern ertrug sie wie ein unausweichliches Schicksal – , setzten sich die
beiden an einen der langen, mit weissen Papiertischtüchern überzogenen Holztische,
die bei schönem Wetter meist bis auf den letzten Platz besetzt waren. Dann
genehmigten sich die beiden jungen Frauen ein schäumendes Bier und plauderten
müssig über ihren Griechenlandtrip, den sie nächstes Jahr noch vor der Matur
zusammen unternehmen wollten, denn Gesa hatte eine Schwäche für die
griechische Mythologie und Ivy für all die Aussteiger und Späthippies, die zu dieser
Zeit in Scharen nach Griechenland trampten. So sassen die beiden jungen Mädchen
blinzelnd in der schwächer werdenden Sonne und nippten ab und zu an ihrem Bier,
als ein dunkelhaariger Junge auf Gesa zukam, dessen geschmeidiger Gang ihr
unauslöschlich im Gedächtnis bleiben würde. „Noch frei?“, fragte er und sah lächelnd
auf Gesa herunter, und erst da erkannte sie „den kleinen Hoffmann“, der nun ganz
und gar nicht mehr klein und schmächtig, sondern im Gegenteil ausnehmend gut
gewachsen war. Ihr ganzes Leben lang würde sich Gesa an das Gefühl erinnern, das
in jenem Augenblick von ihrem Körper, ja von ihrem ganzen Wesen Besitz ergriff und
das in seiner Art einmalig und unerreichbar bleiben würde; aber das wusste sie
damals zum Glück noch nicht. Es war, als würde sie in dem Moment, in dem die
samtenen, noch immer so vertrauten Augen des ehemaligen Schulkameraden auf
sie fielen, überhaupt erst zur Frau – zu einer begehrens- und liebenswerten, zu einer
besonderen Frau, die sich von allen anderen dadurch unterschied, dass Dirk sie sah.
Da sass Gesa nun hinter ihrem Bier und starrte zu dem Jungen hoch, den sie in ihrer
Kindheit so oft verachtet und verhöhnt hatte, und brachte kein Wort heraus. „Aber
setz dich doch!“, gurrte Ivy mit ihrer rauen, etwas heiseren Stimme und zog Dirk auf
den Platz neben sich.
Erst jetzt, als ihn Ivy am Handgelenk packte, wandte er seine Augen von Gesa ab
und drehte sich dem Mädchen zu, von dem er bis dahin nur das kastanienbraune
Haar wahrgenommen haben musste.
Da wusste Gesa, dass sie Dirk für immer verloren hatte.
Der junge Wertheimer
Wertheimer heisse der Junge, behauptete Dorli, die in der Cafeteria des
Schwimmbads bediente und Gesa regelmässig mit Kaffee, Nussgipfeln und dem
neusten Tratsch versorgte. Wertheimer heisse nämlich auch seine Mutter, Ann-
Catherine Wertheimer, die im Übrigen eine richtige Madame sei und in der Stadt eine
Galerie besitze. Wie der Junge zum Vornamen heisse, wisse sie nicht. Aber
Wertheimer, wenn das kein jüdischer Name sei! Ihr, Dorli, könne in dieser Hinsicht
niemand was vormachen; denn die Juden, die hätten es hier (sie rieb vielsagend
Daumen und Zeigefinger aneinander), und hier (sie tippte sich mehrmals energisch
mit dem Zeigefinger an die Stirn). Ob Gesa denn überhaupt wisse, dass es die Juden
mit ihren Sitten viel strenger nähmen als die Katholiken? Mischehen seien in den
höheren jüdischen Kreisen tabu, auch wenn sich der junge Wertheimer die Hörner
wohl lieber mit nichtjüdischen Mädchen abstosse, sie bekomme ja hier im
Schwimmbad so einiges mit. Unglaublich, wie sich die Weiber dem hübschen Kerl an
den Hals werfen würden! Da gebe es sogar einige in Gesas Alter, die den Burschen
nicht von der Bettkante stossen würden. Aber da höre doch auch alles auf, empörte
sich Dorli, oder ob sie, Gesa, sich so etwas vorstellen könne? Gesa tätschelte Dorli
beschwichtigend am Arm und trat aus der Cafeteria auf die Terrasse hinaus, von wo
aus sie den jungen Wertheimer gut im Visier hatte. Er hatte sich in der Zwischenzeit
auf seinem kobaltblauen Badetuch auf den Bauch gedreht und las in einem dicken
Buch. Von Zeit zu Zeit, wenn jemand an ihm vorbeiging, blickte er flüchtig von seiner
Lektüre auf; einmal schaute er einer hochgewachsenen Brünetten nach, die Gesa an
Ivy erinnerte und daran, wie erleichtert sie gewesen war, dass sich Dirk und Ivy nach
jenem Nachmittag auf dem Rummel nicht mehr wiedergesehen hatten.
Ivy hatte keinen von Dirks zahllosen Anrufen entgegengenommen und seine Briefe
ungeöffnet zurückgeschickt; ihn selbst hatte sie mehrmals ungerührt vor der Haustür
stehen lassen. Sie wolle nichts Festes, hatte Ivy Gesa gegenüber glaubhaft beteuert,
und bald darauf war Dirk nach Münster an die Kunstakademie gegangen, ohne sich
vorher von irgendjemandem verabschiedet zu haben. Vielleicht, dachte Gesa,
vielleicht hatte Ivy das alles ja nur für sie, für Gesa, getan, und wenn dem so war …
ja, dann war das wohl so etwas wie – Liebe.
Gesa atmete tief durch und zupfte ihren korallenroten Badeanzug zurecht. Ruckartig
hob sie ihren Kopf und setzte sich mit steifen Gliedern in Bewegung; der Weg zum
Schwimmbecken kam ihr unendlich lang vor.
Als sie an dem Jungen vorbeikam, zog sie unversehens ihren Bauch ein und drehte
sich ganz leicht zu ihm hin.